Lernen auf die harte Weise

Veröffentlicht in South China Morning Post, 14.Juni.2000

von Jing Zhang

Cao Shuiyin (links). Kinder in der “Schule mit einem liebenden Herzen” (rechts). Foto von Ren Yue.
Cao Shuiyin (links). Kinder in der “Schule mit einem liebenden Herzen” (rechts). Foto von Ren Yue.

Um acht Uhr morgens geht Cao Shuiyin, eine 10-jährige Schülerin mit Zöpfen, an einem großen Gemüseanbaubetrieb im Vorort von Beijing entlang zur Schule, wo sie am Unterricht der ersten Klasse teilnehmen wird.

 

Sie geht zur “Schule mit einem liebenden Herzen”. Der Name der Schule steht mit großen chinesischen Schriftzeichen an einer Wand eines Dreizimmerhauses aus roten Lehmziegeln geschrieben, Das Haus mit einem Holzdach steht in einer Ecke im Westen des Gemüsebetriebes. Es dringt ein Sonnenstrahl durch ein zerbrochenes Fenster des Klassenzimmers und landet auf der Tafel. Es gibt keine elektrische Beleuchtung.

 

Sechs rechteckige Tische, die notdürftig aus Holzplanken und Eisenstücken von dem Schulleiter Yang Guimei zusammen gezimmert wurden, stehen auf dem Lehmboden in einem der Räume. Die Schule hat nur zwei Lehrerinnen für 40 Schüler/innen: Frau Yang, eine 40jährige aus Zhangjiakou, das 150 Kilometer nördlich von Beijing liegt und eine junge Frau Anfang 20.

 

Es handelt sich um eine der mehr als 150 nicht legalen Schulen, die sich seit 1994 rund um die Hauptstadt entwickelt haben, um den etwa 20.000 Kinder der Wanderarbeiter in Peking eine Schulbildung zu ermöglichen. Diese Migrantenschulen, die zwischen 7 bis 1.300 Schüler haben, verlangen ein Schulgeld pro Schüler und Semester von 300 bis 600 Yuan (etwa 41-83 Euro).

 

Frau Yang legt ihre Hand auf den Kopf von Cao Shuiyin und sagt: „Shuiyin sollte eigentlich in die 2. Klasse gehen, aber ihr Vater konnte die 40 Yuan monatlich im letzten Jahr nicht aufbringen, daher hat sie ein Semester verloren.“

Die Kleidung, die Cao trägt, hat sie von ihren Mitschülern erhalten. Sie trägt ein Paar weiße Sportschuhe, die ihr zu groß sind. Wenn sie über ihre Familiengeschichte erzählt, fällt ihr Blick aus den tiefschwarzen Augen oft auf ihre Lehrerin. Ihr 16-jähriger Bruder lebt davon, dass er dem Vater beim Reparieren von Fahrrädern hilft. Ihre arbeitslose Mutter hat gerade eine kleine Schwester zur Welt gebracht. Auf der Suche nach einem besseren Leben ist die Familie aus der Provinz Sichuan, die gut 1.900 Kilometer von Beijing entfernt liegt, gekommen. 

 

Mehr als 310.000 Migrantenfamilien sind mit ähnlichen Träumen in die Hauptstadt gekommen. Sie stellen unterschiedliche Stufen einer Pyramide im Hinblick auf Einkommen und sozialem Status dar. Die Spitze besteht aus zurück gekehrten Akademikern, die ein Studium im Ausland absolviert haben, Ingenieure mit mindestens Masterabschluss und IT-Unternehmern, die monatlich über 10.000 Yuan (etwa 1.380 Euro) verdienen können.

 

Händler und Besitzer kleiner Unternehmen aus den südlichen Provinzen wie Zhejiang sind gut situiert und stehen auf der zweithöchsten Stufe. Jedoch landet der größte Teil der Migranten auf der untersten Stufe der Pyramide. Sie verdienen zwischen 800 und 1.500 Yan (etwa 110 – 280 Euro) im Monat und arbeiten als Straßenverkäufer, Gemüsebauern und Müllsammler. Arbeiten, die die Beijinger oder Bewohnen anderer aufstrebender Städte auf dem Festland nicht mehr ausüben möchten.

In den letzten Jahren ist das Durchschnittseinkommen der Landbevölkerung auf die Hälfte des Einkommens der Stadtbevölkerung gefallen. Andererseits haben wachsende Städte immer mehr Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Das führte dazu, dass ein Überschuss von 90 Millionen Arbeitskräften aus den ländlichen Gebieten in die Städte strömte und dabei zwei Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter mitbrachte.

Zhao Shukai, ein Forscher am Zentrum für Entwicklungsforschung, einem Thinktank der Zentralregierung, sagt: „Die Städte sind auf diese Entwicklung nicht gut genug vorbereitet und die öffentlichen Einrichtungen kommen mit der Zuwanderung nicht zurecht. Das Problem der Einschulung von Wanderarbeiterkindern wird immer akuter.“

Vor 50 Jahren hat das Registrierungssytem der Bevölkerung in China eine klare Trennlinie zwischen ländlichen und städtischen Gebieten gezogen. Bauern und Landarbeiter sollen nach diesen Vorstellungen auf ihren Höfen bleiben und städtische Arbeiter in ihrer Stadt. Auch wenn ein Landarbeiter eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung in einer Stadt hat, darf er nicht die Vorrechte genießen, die der Einwohner der Stadt hat. Somit können ihre Kinder nicht in den Genuss der staatlich vorgeschriebenen neunjährigen Schulpflicht kommen, es sei denn, ihre Eltern bezahlen eine extra „Einschreibegebühr“

Wang Hongjin, der Leiter der Abteilung für Statistik des Ministeriums für Erziehung, sagte: „Solche Probleme existieren im Ausland nicht, da sie nicht ein solches Registrierungssystem haben. In manchen Ländern ist die allgemeine Schulbildung ausschließlich in der Verantwortung der zentralen Regierung. In China jedoch wird die Verantwortung für die Bildung an die Regierungen der anderen Gebiete aufgeteilt.

 

Die öffentlichen Schulen berechnen Kindern von Migranten drei unterschiedliche Gebührenarten: einen Beitrag für das off-home Gebiet von 480 Yuan pro Semester, dazu 1.000 Yuan (etwa 139 Euro) für die Schulauswahl und dazu noch eine erforderliche „Spende“, die zwischen 1.000 Yuan und 30.000 Yuan (139 bis 4.150 Euro) beträgt. Viele Schulen verlangen von den Eltern, den Betrag auf einmal zu bezahlen.

Zhang Simin, der auf der Straße Obst verkauft, sagte: „Diese Gebühren sind nicht angemessen. Wir sind Wanderarbeiter, die nicht wissen, wo wir im nächsten Jahr leben werden. Nur Dummköpfe legen 10.000 Yuan (etwa 1.390 Euro) auf einmal hin.“

 

Herr Zhao sagte: “Einige Regierungsbeamte glauben, dass diese hohen Einschreibegebühren dazu beitragen, schlecht ausgebildete Migranten nach Hause zu treiben. Wenn sie nicht wollen, dass ihre Kinder Schulabbrecher werden, gehen sie lieber zurück. Das ist ihre Hoffnung.“

Wanderarbeiter werden zum Ziel von Vorwürfen aller Art, von steigender Kriminalität bis zu fallenden Löhnen. Mr. Zhao hält dies für nicht gerecht: „Die Wanderarbeiter haben viel zum Lebensstandard der Beijinger beigetragen. Sie leisten die Arbeiten, die die Einwohner nicht mehr tun wollen. Wir sind stark von ihnen abhängig. Außerdem zahlen auch sie Steuern.“

 

Herr Zhang sagte: „Ich werde meine Familie um jeden Preis zusammenhalten. Meine Tochter wird die Schule in Beijing besuchen. Seit meine Eltern gestorben sind, kann sich niemand in meiner Heimat um sie kümmern.

 

Als kleines Zeichen des Fortschritts forderte die Erziehungskommission in Beijing ihre Außenstelle im Fengtai Distrikt auf, versuchsweise eine Internatsschule für Kinder von Wanderarbeitern zu errichten. Jedoch hat die Semestergebühr von 3.000 Yuan dazu geführt, dass weniger als 100 Schüler/innen angemeldet wurden. Herr Zhang schickt seine 12-jährige Tochter stattdessen zu einer Grundschule mit 750 Schülern/Schülerinnen in Huangzhuang im Shijingshan Distrikt. Solche mittelgroßen Schulen, die pro Semester 300 bis 400 Yuan (ca. 41-55 Euro) verlangen, erfreuen sich großer Beliebtheit.

 

Chen Enxian, der Schulleiter der Huangzhuang Grundschule, sagte: „Migranteneltern legen genau so viel Wert auf die Erziehung ihrer Kinder wie Familien in den Städten. Sie haben unter ihrem Analphabetismus gelitten und möchten ihren Kindern dieses Los ersparen. So lange sie das Geld aufbringen können, werden sie ihre Kinder zur Schule schicken.“

 

In der Mitte der Schule befindet sich ein 50 Quadratmeter großer Computerraum, der durch zwei Deckenventilatoren im Sommer gekühlt und im Winter mit einem Kohleofen geheizt wird. Herr Chen war vormals Geschichtslehrer an einer Schwerpunktschule in der Provinz Henan. Vor zwei Jahren besuchte er Beijing und erfuhr über die Notlage von 300 Schulabbrechern, alle waren Migrantenkinder. Er beschloss darauf, Migrantenschulen zu seiner Lebensaufgabe zu machen.

Die Lehrkräfte von Herrn Chen erhalten jeden Monat 500 Yuan (ca. 69 Euro), die Hälfte von dem, was ihre staatlich angestellten Kollegen verdienen. Aber sie sind besser dran als in ihrer Heimat. Die Schule von Herrn Chen verlässt sich auf das Schulgeld und die Investition seines Neffens, aber nicht auf Spenden. Er kann gerade so über die Runden kommen und oft noch senkt er für arme Familien das Schulgeld oder verzichtet ganz darauf.

 

Er gibt zu, dass er Yi Benyao, seinen ehemaligen Mitschüler aus der Oberschule beneidet, der ebenfalls Schulleiter einer Migrantenschule ist. Mr. Yi’s Schule hat bisher 300.000 Yuan (ca. 41.500 Euro) von einer philanthropischen Stiftung aus Hongkong und einem chinesisch-amerikanischen Gönner aus Los Angeles erhalten. Am 18. Mai registrierte Chen eine Internet Domain (www.61.net.org), um Öffentlichkeitswirkung für die Lage der Migrantenkinder zu schaffen. 

 

„Meine größte Sorge ist, dass die Schule eines Tages von der Regierung geschlossen wird“, meinte er.

Die Lehrer der Migrantenkinder hoffen auf eine Billigung durch die Regierung, damit ihr unrechtmäßiger Status beendet wird. Aber von den Regierungsbeamten kommen verwirrende Signale. Einige sind unsicher, andere dafür, die Schulen zu schließen.

 

Wang Hongjian, ein Direktor im Bildungsministerium, glaubt, dass diese Schulen ein dringend notwendiges Bedürfnis decken: „Es ist falsch, diese Migrantenschulen als illegal zu bezeichnen. Es ist wahr, dass sie nicht von der Regierung genehmigt wurden, aber viele Migrantenkinder können sich die öffentlichen Schulen nicht leisten.“ 

 

Herr Zhao warnt: „Es ist unmöglich, die Migrantenschulen zu legalisieren, weil sie das gegenwärtige Bildungssystem beschädigen. Die Migrantenschulen sind nicht qualifiziert zu unterrichten. Die meisten der dortigen Lehrer einschließlich der Schulleiter sind selbst Migranten bzw. Wanderarbeiter. Nur 14 Prozent von ihnen verfügen über einen Universitäts- oder Collegeabschluß, wie es für eine Tätigkeit als Lehrer an Grundschulen erforderlich ist. Die beste Lösung für das Problem wäre es, den Migranten die gleiche Identität wie den Stadtbewohnern zu geben.“

 

Es ist eine besondere Ironie, dass die öffentlichen Schulen, welche die Wanderarbeiter sich nicht leisten können, einen Schülermangel haben. Laut Statistik sind über 100 Klassenzimmer in Beijing ungenutzt. Jedoch zeigen sich diese Schulen nicht willens, Migrantenkindern die Einschulung zu erleichtern. Mr. Zhao seufzt: „Profit steht überall an erster Stelle.“

 

(Ende)